Sie besucht ihre Mutter im Pflegeheim. Die sitzt im Sessel, die Decke über den Knien. Unruhig gleiten die Finger hin und her, und unruhig ist ihr Blick, der nichts mehr fasst und behält. „Wie heißen Sie noch mal?“ fragt sie die Tochter, als die ihr die Haare kämmt und das Brot gibt.
Die Tochter verabschiedet sich, schließt die Tür hinter sich und schluckt. Die Ärzte haben ihr keinen Mut gemacht. Mama war immer mein Bollwerk, denkt sie. Gegen die Dunkelheit der Nacht, gegen den Liebeskummer, gegen Probleme bei der Arbeit. Alles konnte ich ihr erzählen.
Doch wenn sie nicht mehr da ist, dann bin ich nie mehr Kind. Niemand wir mehr zu mir sagen: Bist du zu dünn angezogen? Schläfst du genug?
Sie verlässt das Pflegeheim. Vom Gehweg aus kann sie in das Zimmer der Mutter sehen. Sie winkt ihr zu. Und ihre Mutter hat einen lichten Moment, lächelt und winkt eifrig zurück. Viel jünger sieht sie plötzlich aus. Weich werden ihre Züge, kindlich. Als ob das Mädchen noch einmal lächelt, das sie gewesen ist. Dann erlischt das Lächeln. Die Tochter dreht sich um und geht in den lauen Frühlingsabend.
Zuhause schließt sie die Wohnungstür auf. „Mama“ schreit ihre Tochter, „bist du wieder da?“ Die Kleine hüpft ihr entgegen und springt auf ihren Arm. Sie drückt ihr Gesicht in das Haar der Tochter. Blondes Haar, so blond und gewellt wie sonst nur noch bei ihrer Mutter. Sie setzt das Mädchen ab, und es zieht die Nase kraus, um die Brille wieder zurechtzurücken. Genauso hat ihre Mutter das auch immer gemacht.
Sie sieht ihre Tochter an, diese kleine Knospe, die sich im Frühling des Lebens gerade erst entfaltet. Das Erbe ihrer Mutter und ihrer Großmutter trägt sie in sich. Und ist doch ein neuer Ton in der Melodie der Generationen, die fort und fort klingt, weil Gott es so will.
Sie öffnet das Fenster und atmet noch einmal tief den Duft von Erde und Wachsen und Frühling ein. Nicht der Tod hat das letzte Wort, sondern das Leben, die Liebe und die Zärtlichkeit.
Monika Krösche ist Pastorin in Hankensbüttel
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