Wählen

26. September 2021

Unser Leben ist kompliziert. Meines jedenfalls. Jede Sache hat nicht nur eine Seite, sondern viele. Alles ist eingebunden in ein Netz von Bezügen und Bedingungen, die nur schwer zu entwirren sind. Viele aufeinander abgestimmte Abläufe und einander zugeordnete Funktionen ergeben mein Leben. Der Roman „Ulysses“ vom irischen Autor James Joyce beschreibt auf 910 Seiten einen Tag im Leben des Leopold Bloom, den 16. Juni 1904. Die Gedanken, Gefühle, Erinnerungen und Begebenheiten nur eines Tages brauchen offenbar ein dickes Buch, um halbwegs angemessen beschrieben zu werden.

Morgen ist Wahltag. Wir wählen einen neuen Bundestag und in der Stichwahl den Landrat unseres Landkreises. Bei all den bundesweiten Wahlveranstaltungen, den verschiedenen Triells, den Plakaten und Diskussionen gab es sicherlich viele Vereinfachungen, die der Vielseitigkeit der Themen nicht gerecht wurden. Darüber mag man sich aufregen. Am Ende lebt aber jeder Wahlkampf von plakativen Botschaften, eben weil komplizierte Themen nicht in kurzen Sätzen „rübergebracht“ werden können. Für mich ist das völlig okay. Ich gehe einfach davon aus, dass sich alle demokratischen Parteien nach der Wahl wieder (mehr oder weniger) auf die Arbeit an der Sache konzentrieren und in langen Sitzungen und Prozeduren der Vielschichtigkeit der Dinge gerecht werden.

In der Politik haben wir die Wahl. Und diese Möglichkeit sollten wir wahrnehmen. Vielleicht ist die politische Wahlmüdigkeit ein Zeichen dafür, dass es viele verlernt haben, für ihre eigenen Grundorientierungen eine Wahl zu treffen?

„Gesegnet ist der Mensch, der sich auf Gott verlässt. Der ist wie ein Baum, am Wasser gepflanzt, der seine Wurzeln zum Bach hin streckt.“ (aus Jeremia 17, 7f.) Gerade weil die Dinge (und besonders das eigene Seelenleben) so vielschichtig und manchmal unentwirrbar kompliziert sind, sollten wir auch hier unser Wahlrecht wahrnehmen. Ich kann das dumpfe Laufenlassen wählen. Oder die Resignation. Oder die bittersüßen Früchte des Selbstmitleids. Oder meine selbstgezimmerte Weltanschauung. Oder das Sichgehenlassen in Süchten und Zwängen.

Ich kann mich aber auch besinnen. Und das wählen, was Jeremia mit dem Baum und dem Wasserlauf beschreibt: eine Haltung, die sich den Kräften des Wachstums, der Erneuerung und des Reifens öffnet. Damit wird mein Leben nicht weniger kompliziert. Es bleibt vielschichtig und oft undurchsichtig. Aber es bekommt doch einen anderen Richtungssinn – und eine andere Kraftquelle.
Wir haben die Wahl.

Dr. Heinrich Springhorn ist Pastor in Hankensbüttel und Sprakensehl

Alle AnsprechpartnerInnen in unseren Gemeinden finden Sie hier.

... alle Andachten

Dr. Heinrich Springhorn
Pastor Dr. Heinrich Springhorn
Schulstraße 7
29365 Sprakensehl
Tel.: 05837 1253