In meinem halbkatholischen Elternhaus war in einer der vielen Ecken des Wohnzimmers ein Bord angebracht. Darauf stand eine Muttergottes, Maria mit dem Jesuskind, so hoch, dass wir Kinder da nicht rankamen. An der Wand daneben hing ein Kruzifix, und hinter dem Kruzifix steckte schräg ein kleines Sträußchen vom Buchsbaum: ein Palmzweig. Den hatte mein Vater irgendwann in den 1980er Jahren an einem Palmsonntag im nahgelegenen Kloster segnen lassen und daheim dem Kreuz aufgesteckt, damit das ganze Haus an diesem Segen teilhaben konnte. (Eigentlich hätte das Sträußchen jedes Jahr erneuert werden sollen; aber dazu ist es nicht gekommen, es steckte da jahrzehntelang derselbe Zweig.)
Morgen ist wieder Palmsonntag. Wenn ich in unseren Gottesdiensten an diesem Tag die Geschichte von Jesu Einzug in Jerusalem höre, muss ich immer auch an den Herrgottswinkel, diese fromme Ecke früher bei uns zu Hause denken. Und ich muss gestehen: Ich frage mich erst jetzt, wozu in der katholischen Kirche die Palmzweige überhaupt gesegnet werden. Sowas kann man heute glücklicherweise schnell googeln. Auf der Internetseite des Erzbistums Köln werde ich fündig: Die Gemeinde zieht „noch heute mit den gesegneten Palmen durch die Straßen zur Heiligen Messe in die Kirche“. Und die Zweige „erinnern daran, dass die Christen Jesus in ihrem Leben als ihren König annehmen“.
Wie ein König wird Jesus in Jerusalem begrüßt. Die Leute bereiten ihm auf den Straßen einen großen Empfang. Und jubeln ihm zu: Hosianna! Herr, hilf! Aber die Begeisterung ist nur von kurzer Dauer. Es ist noch nicht mal eine Woche hin, dann hören wir, dass sie ihn nicht mehr hochleben lassen, sondern ans Kreuz wünschen. Der Jubel des Palmsonntags ist überwältigend – und trägt schon das Gift des Verrats in sich. Ja, natürlich, wir Christen sehen Jesus als König. Und geraten doch immer wieder ins Zwielicht und schreien im Chor mit: Kreuzige ihn!
Man könnte an sich selbst verzweifeln. Habe ich überhaupt ein Recht, das Haus mit Palmzweigen zu segnen, wenn ich doch eigentlich weiß: Ich halte das Hosianna sowieso nicht durch? In der Karwoche, die mit dem Palmsonntag beginnt, blicken wir in menschliche Abgründe, oft genug die eigenen. Und müssen uns sagen lassen, dass wir am Ende zum Guten nicht imstande sind. Die Zweige, die hinterm Kreuz stecken, sind trotzdem richtig. Denn sie rufen uns in Erinnerung, dass wir vor Gott versagen, aber Gott nicht vor uns. Er steht für uns ein, und zwar nicht nur für einen Tag, sondern für alle Zeit. So sind wir, Palmen hin oder her, wirklich gesegnet.
Karsten Heitkamp ist Pastor im Westen des Isenhagener Landes
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