Knesebecker Pastorin geht in den Ruhestand
Drei Jahrzehnte hat Christina vom Brocke als Landpastorin gearbeitet – was sie ursprünglich gar nicht wollte. „Ich habe das erste Jahr hier auf dem Land nur geheult, ich fühlte mich wie im Zonenrandgebiet!“ Und in die ‚Zone‘ wollte sie nie wieder. Dass sie blieb, liegt auch daran, dass die Menschen auf dem Land direkter sind. „Wenn sie Vertrauen zu Dir gefasst haben, kommen sie mit ihren Lebensfragen.“ Hier gelang ihr, was sie bereits in jungen Jahren wollte: Den Menschen dienen. „Das fand ich von Anfang an toll!“
Christina vom Brocke ist eine Menschenfreundin, eine, zu der die Menschen kommen. „Das war schon immer so. Wenn ich im Urlaub im Café sitze, kommt jemand und fragt mich etwas. Das passiert mir wirklich oft.“ Die Entscheidung, Pastorin zu werden wie ihr Vater, ihr Großvater, ihr Ur- und ihr Ururgroßvater, scheint daher selbstverständlich. „Wir müssen auf der Seite der Menschen stehen“, sagte ihr Vater, der in den 1960er und 1970er Jahren Pastor in der Lausitz und dann im Oberspreewald war – bis zur Ausbürgerung aus der DDR. „Vati stand vor dem Gefängnis, ich vor dem Kinderheim, Mutti lag ein Jahr ohne Medikamente herzkrank im Bett.“
Und das nur, weil sich Pastor Gerhard Schröder entschieden hatte, mit den Menschen mitzugehen. „Als sich Fräulein Mezker entschied, nicht mehr Mitglied der Partei zu sein, begleitete mein Vater sie zum Parteisekretär, der sich dem Austrittswunsch verweigerte.“ Oder Karin. Die wollte Krankenschwester werden. Weil sie konfirmiert war, durfte sie das nicht. Also begleitet Pastor Schröder die junge Frau bei ihrem Bemühen, ihren Berufswunsch doch umzusetzen. Für den kommunistischen Staat wurde der Vetschauer Pastor politisch untragbar.
“Wir waren Geächtete“
„Das war ‚ne ganz heiße Phase mit den Auseinandersetzungen zwischen Kirche und Staat. Wir waren immer mittendrin als Kinder.“ Christina vom Brocke war Turnerin, spielte Handball, sie war DDR-Leistungssportlerin im Kader. „Ich dachte immer, das sind meine Freunde. Und nachmittags sprach keiner mehr mit mir.“ Morgens nämlich hatte ihr Vater in Berlin den Ausreiseantrag gestellt, noch am selben Tag ist die 16-Jährige eine Persona non grata. „Wir waren Geächtete, neun Monate lang.“ Keiner grüßt sie, keiner spricht mit ihr. Dass die Schulabschlussprüfungen verlegt wurden, erfährt sie durch Zufall, sie wird nicht mehr gehört, gehört nicht mehr dazu.
Die Bezirksmeisterin ist körperlich – und emotional – auf kaltem Entzug: Von vier bis fünf Stunden Training jeden Tag von Montag bis Samstag übergangslos auf Null gesetzt. „Meine beste Freundin von damals hat bis heute kein Wort mit mir gesprochen. Ich war so enttäuscht von den Menschen.“ Die christliche Jugendgruppe reagiert anders. „Die waren mir in der Zeit sehr nahe. Hätte ich die nicht gehabt, das wäre ein Horror gewesen.“ Diese soziale Ächtung prägte Christina vom Brocke, bis heute. „Das ist der Schlüssel. Für meine Einstellung zum gesamten Leben. Ich habe damals für mich entschieden: Du machst mal ganz dicht zu.“ Einen dicken Riegel schiebt sie vor ihr Unterbewusstsein, nur das Gute durfte durchkommen.
Bad Frankenhausen, Vechtau, Region Hannover und dann die Städte, in denen sie als Studentin lebte. Göttingen, Marburg, Wien, Münster, wieder Göttingen. Christina vom Brocke bezeichnet sich aus stadtgeprägt. Die erste Pfarrstelle: Hankensbüttel. Das ist schwer für die 31jährige Berufsanfängerin, die mit Mann und Kind ins Isenhagener Land kam. „Ich habe nur immer geheult, wenn meine Geschwister und meine Eltern wieder weggefahren sind. Jedes Wochenende hatten wir Besuch. Ich fühlte mich wie im Zonenrandgebiet, da wollte ich nie wieder hin!“ Nach einem Jahr wird es besser, Christina vom Brocke kommt an. „Dann hat es so viel Freude gemacht mit den Menschen hier. Es war auf einmal so.“ Als auch ihr Mann sein Theologiestudium abschließt, steht der Entschluss fest: Wir bleiben hier in der Region! Dass es schließlich Knesebeck wurde, ist Elisabeth Schulze zu verdanken.
“Man ist gleich in den tiefen Fragen drin“
„Ich hatte hier die richtige Basis, war geerdet. Dir helfen keine Theorien, wenn es bei den Menschen nicht ankommt. Dann bist Du ‘ne Kirche im Kopf. Aber Du verlierst den Platz im Leben.“ Ihr Platz im Leben ist ganz ohne Zweifel bei den Menschen. „Mit einem Literaturgesprächskreis bin ich hier kläglich gescheitert. Hier gehst Du zu den Leuten hin, begleitest sie bei einem Trauerfall, dann fassen sie Vertrauen mit der Zeit, dann kommen sie mit ihren Lebensfragen.“
Eine Konfirmandin zum Beispiel. „Christina, meine Pflegeeltern haben mich rausgeschmissen. Ich weiß nicht, wie ich jetzt zum Konfa kommen soll, schreibt sie mir.“ Die beiden telefonieren, nicht nur einmal, Christina vom Brocke hält den Kontakt, leistet im Grunde genommen Sozialarbeit in ihrer Gemeinde. „Man ist gleich in echten, in tiefen Fragen drin: Mein Mann hat mich verlassen, ich weiß nicht weiter. Was soll ich jetzt machen? Ich höre mir das erst mal an.“ Christina vom Brocke öffnet Menschen den Blick für das, was da ist, was möglich wäre. Sie öffnet Wege mit ihren Anregungen und Gedanken, erläutert das Für und das Wider.
Ihr Handwerkszeug für diese Art ihrer Arbeit hat sie in Wien gelernt, als Psychologiestudentin. „Ich wollte das machen, denn ich wusste, dass das im Beruf auf mich zukommt.“ Die Menschen spüren, dass ihre Pastorin offen ist für ihre Belange, erlebt vom Brocke Zeit ihres Pastorinnenlebens. „Belastend war das nie für mich, auch Trauer- und Sterbebegleitung nicht. Der Pastorenberuf ist ganz was Tolles, ich bin ein großer Fan davon“, schwärmt die 63-Jährige. „Es gibt so viele Möglichkeiten, für die man sich entscheiden kann!“ Als Landpastorin macht sie mit großem Engagement Kindergottesdienstarbeit – nicht nur in ihrer Gemeinde, sondern auch landeskirchen- und EKD-weit. Zu besonderen Aufgaben kam Christina vom Brocke immer dann, wenn „ein feminines Element“ gebraucht wurde. Das war nicht nur beim Andachtsbuch „Fünf Minuten mit Gott“ so, wo sie zum Redaktionskreis um Landesbischof Meister gehörte, das war auch beim Kindergottesdienst so.
“Für mich ist das Herz entscheidend“
„Da bin ich reingestoßen worden. Die Kollegen hatten hier eine klare Arbeitsteilung“, erinnert sie sich an ihre Zeit in Hankensbüttel. Sie sei jung, habe Kinder, sie solle doch den Kindergottesdienst übernehmen. Das hat sie gemacht und dann gemerkt, dass ihr das liegt. Dass sie auch mit dieser Arbeit dem Menschen dienen kann. „Wenn mich jemand um Hilfe bittet, frage ich nicht nach seiner Konfession. Für mich ist das Herz entscheidend. Darauf kommt es an!“ Zumindest seelsorgerlich. Anders ist das mit den kirchlichen Kasualien. „Ich würde mir nicht anmaßen, jemanden zu beerdigen, bloß weil es die Angehörigen wollen oder ich günstiger bin als ein Redner. Wenn jemand sagt, ich gehöre nicht dazu, respektiere ich das. Ich annektiere nicht einfach Menschen.“
Es geht ihr um Respekt. Vor der Entscheidung der Menschen aber auch vor dem Christentum und seinem Bekenntnis. Was die Theologin allerdings nicht davon abhält, die Kirche umbauen zu wollen. „Wir müssen Tabula rasa machen, wir sind doch ecclesia semper reformandum, eine sich ständig selbst reformierende Kirche.“ Umstrukturierungen begleiteten sie ein Berufsleben lang, Sparmaßnahmen auch. „Das zwingt uns zum Umdenken: Wir brauchen andere Formen, andere Musik, wir müssen auf die Menschen eingehen!“ Leichtigkeit brauche es zum Umdenken. „Wenn Du frei bist, kannst Du spinnen. Geerdet wird es immer noch. Aus finanziellen und aus zeitlichen Gründen“, lacht vom Brocke. „Es bedarf der Leichtigkeit, um Schönes und Neues zu erträumen.“ Kirche solle Träume von Menschen öffnen und wahrmachen helfen. Schöne Hochzeiten. Würdevolle, leichte Beerdigungen. „Irdisch Schweres haben die Menschen genug. Das Himmlische, das, was uns hochzieht, das brauchen die Herzen.“
Lebe jeden Tag!
Ein alter Landwirt ist es, der ihr dazu einfällt, einer, der hartherzig und geizig viele Jahre seines Lebens vergeudet hatte. „Sterbebegleitungen haben mir gezeigt, wie wertvoll jeder Tag des Lebens ist. Was Du verbaselt hast, kannst Du vielleicht zurechtrücken. Du kannst aber keinen Tag zurückholen. Also: Carpe Diem!“ Klappt aber nicht jeden Tag und dann heißt es abends: „Mist Christina, jetzt aber schnell noch was Schönes!“ Resetten will sich Christina vom Brocke nach ihrer Verabschiedung als Gemeindepastorin, die Konfirmationen in Knesebeck macht sie noch, auch den Gottesdienst bei Butting, aber danach kommt der Reset. „Ich will die Stube leerhaben und sehen, was das Leben mir noch so bringt.“ Carpe diem!
Öffentlichkeitsarbeit im Kirchenkreis / Frauke Josuweit