Hasen fangen

Nachricht 27. April 2023
Foto: Kirchenkreis Wolfsburg-Wittingen / F. Josuweit

34 Jahre war Johannes Thormeier Pastor in Wolfsburg. Wer sein Ordinationsfoto sieht – ein junger Mann mit ganz langem Bart – denkt: „Boah, ein Superfrommer.“ Dass Frömmigkeit und intensive Gebetspraxis sein Leben lenken, daraus macht der 65jährige Theologe kein Geheimnis. „Mein Glaube ist im Laufe meines Lebens immer weiter und großherziger geworden.“ Diesen Weg möchte er fortsetzen und geht deshalb noch nicht in den Ruhestand, sondern arbeitet als Springerpastor im Kirchenkreis weiter.

 

Freiwillig nach Wolfsburg? Ja klar, denn in der Autostadt war es vorstellbar, zumindest den Familienalltag ohne Auto bewältigen zu können. „Ich gehöre zu der Generation, für die es nicht sicher war, ob wir überhaupt nach dem Studium als Pastorin oder Pastor arbeiten können“, erinnert sich Johannes Thormeier. Unsicherheit, auch Demütigung in einer Lebensphase, wo man sich auf den Weg macht ins Leben. Johannes Thormeier studierte in Göttingen und Berlin Theologie, engagiert sich in der Studentenmission Deutschland, einem eher konservativ orientierten Netzwerk von Christinnen und Christen in Hochschule und Beruf. Für Thormeier, aufgewachsen in einer frommen Familie und in einer frommen Jugendarbeit sozialisiert, war das Heimatsprache. „Wir kannten auch den Geist der Moderne, aber Gebet und Bibelarbeit gehörten bei uns ganz klar dazu. Mittagsgebete, gemeinsame Gottesdienstbesuche und sozialdiakonische Projekte auch.“

Gemeinsam an einer Sache arbeiten

Mit dem Vikariat ist Thormeier erstmalig in landeskirchliche Kontexte eingebunden, muss sich zurechtfinden, auch im Kreis der Kolleg:innen, mit dem Vikariatsleiter. Nicht alles war erfreulich, trotzdem beißt er sich durch. Wohlwollen und Akzeptanz statt Konkurrenz, Kampf und Dominanz wären der bessere, fairere Weg, findet Johannes Thormeier. Sein Wunsch damals und heute: Gemeinsam an einer Sache arbeiten. „Ich glaube, alle haben Sehnsucht danach. Und es ist die größte Schwierigkeit, das hinzubekommen.“

Glaubensaussagen, eigene Überzeugungen – immer gehe es auch um die eigene Existenz, so die Erfahrung des Theologen. „Ich habe lange gebraucht, um zu akzeptieren, dass meine Frau meine Predigten kritisiert.“ Klar Position beziehen und trotzdem kooperativ sein, das wird seine Devise. Immer wieder scheitert er am eigenen Anspruch, oft gelingt es aber auch. „Wolfsburgs kirchliche Szene war geprägt von dominanten Persönlichkeiten, und zwar in allen Bereichen. Jede:r reklamierte seine oder ihre Bereiche für sich, steckte das Terrain ab.“

Neue Projektideen? Ach was.

Als Thormeier nach Wolfsburg kommt, ist gerade die Phase mit zwei getrennten Kirchenkreiskonferenzen vorbei. Auf der einen Seite die eher Konservativen, auf der anderen die, die sich Stadtgestaltung, sozialdiakonisches und politisches Engagement, auch den Umweltschutz auf ihre Fahnen geschrieben hatten. „Die waren damals sehr widerständig, alle. Haben für das gekämpft, was sie wollten.“ Neue Projektideen des Hilfspfarrers? Ach was. Da stand dann einer der älteren Kollegen auf und wischte das mit der Bemerkung ‚Hasen fangen nur Hasen‘ vom Tisch. Die Frommen bekämen nur die Frommen, die anderen erreiche man eh nicht. „Damit war dann die Sache erledigt“, lacht Thormeier. „Rückblickend muss ich sagen: Recht hat er. Wir bewegen uns überwiegend in unserem eigenen Milieu.“

Die Frage, wie Kirche Menschen erreichen kann, ist im Laufe der Jahrzehnte immer drängender geworden. Damit verbindet sich auch die Frage, wie Kirche sich selbst und ihren Werten treu bleibt. „Wenn jemand sagt, ich gehe nicht in den Gottesdienst, weil ich immer wieder nur mit dem Thema Sünde klein gemacht werde, würde ich sagen: Erstens muss das nicht so empfunden werden und zweitens, was bedeutet das eigentlich, wenn jemand so etwas sagt?“ Thormeier will festhalten an den Fragen, die seinen Glauben ausmachen, will sich nicht anbiedern, will in aller Freundlichkeit und Sanftheit dranbleiben. Er geht Hasen fangen. „Da wird was angetickt, angesprochen in dieser Person, womit sie sich auseinanderzusetzen hat. Die Menschen müssen sich entscheiden, ob sie sich ihren eigenen Themen stellen wollen.“ Das sei unbequem, zumindest auf den ersten, vielleicht auch noch auf den zweiten Blick. Aber beim genaueren Hinsehen werde klar: „Das Thema Sünde muss Dich nicht klein machen!“

“Ich bleibe immer etwas schuldig“

Sünde – ein Alltagsthema, findet Johannes Thormeier. „Mir wird immer wieder bewusst, dass ich den Menschen, die ich liebe, meiner Frau, meinen Kindern, immer etwas schuldig bleibe. Mir selber auch.“ Es sei immer ein Defizit da. „Das ich nicht will, und doch ist es so.“ Das könne man leugnen und sagen, es macht mich klein. Man könne aber auch sagen: Das gehört dazu. Zur Freiheit, ein Individuum zu sein, gehörten auch Defizite. Bleibende Defizite.

„Ich übertrage das aufs Gottesverhältnis und sage: Ja, zwischen mir und Gott gibt es Defizite.“ Umgekehrt sage die jüdisch-christliche Tradition, Gott bleibe auch den Menschen etwas schuldig. Das werde im Leiden besonders deutlich. „Wenn ich in der Notfallseelsorge mit Eltern und einem toten Kind im Arm dastehe, dann frage ich mich schon: Musste das sein?“

50 Jahre beten – Tag für Tag

Das musste nicht sein, meint Thormeier, aber man könne es nicht aufrechnen. Man könne es nur stehen lassen und in Liebe ja sagen. Er habe im Laufe seiner Notfallseelsorgetätigkeit gelernt: „Ich kann das Leid nicht auflösen, aber ich habe die Kraft, es zusammen mit anderen auszuhalten. Diese Kraft kommt aus meiner Gebetsfrömmigkeit.“ Die nämlich sei gewachsen durch die Jahre und auch durch die Disziplin. Die Kontinuität sei entscheidend. Das Durchhalten. Auch dann, wenn man mal keine Lust hat. Jeden Tag. Egal was sonst noch los ist. Egal, ob die Sonne scheint oder nicht. Mehr als ein halbes Jahrhundert, Tag für Tag.

Johannes Thormeier geht diesen Weg mehr oder weniger für sich allein, beheimatet sich damit nicht in einer Gruppe. „Ich habe immer auch die Freiheit, für mich zu sein, genossen.“ Nach den Demütigungen am Beginn des Berufslebens kommt heute auch eine große Dankbarkeit zum Ausdruck. „Unsere Landeskirche bietet uns einen unglaublichen Freiraum. Es gibt keine andere Organisation, die Dir das bietet.“ Der Pastorenberuf war und ist für Johannes Thormeier nicht nur fordernd, sondern auch sehr erfüllend. Persönliche Entwicklung inbegriffen. „Ich komme aus einer wirklich enggeführten christlichen Frömmigkeit. Mein Glaube ist im Laufe meiner Lebens- und Berufsbiografie immer weiter geworden. Und großherziger.“

“Ich hatte damals nicht den Mut“

Es habe ihn immer schon erschreckt, wie oft in kirchlicher Praxis Engherzigkeit an den Tag gelegt werde. Und erinnert sich an eine prägende Erfahrung, für die er mitverantwortlich war. „Ein Kollege bat uns, seinen Vater zu beerdigen, der nicht mehr unserer Kirche angehörte. Wir hatte im Teampfarramt die Verabredung: Wir beerdigen keine Ausgetretenen. Wir haben ihn nicht beerdigt.“ Das sei nicht richtig gewesen. „Ich hatte damals nicht den Mut, eine eigene Position zu vertreten. Mit welchem Recht, mit welchem Ansinnen legen wir solche Grenzen fest?“

Dran bleiben an Themen, Erfahrungen, Blickrichtungen und auch den eigenen Glauben weiten, sich etwas neu oder noch mal anders erschließen, mit den biblischen Texten im Gespräch zu bleiben, das möchte der Theologe, der eigentlich im Ruhestand sein könnte. Doch Johannes Thormeier macht weiter. Für zunächst ein Jahr ist er Springerpastor im Kirchenkreis. „Ich bin in einer Phase, wo sich innerlich noch mal was entwickelt. Wo noch mal ein neues Verstehen, ein neues Bewusstsein entsteht von Zusammenhängen meines Lebens, meines Glaubens und dieser Welt. Das möchte ich noch ein bisschen ausarbeiten.“

Öffentlichkeitsarbeit im Kirchenkreis / Frauke Josuweit

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Sommerkirche mit Johannes Thormeier

9. Juli 2023
11.00 Uhr Ohrdorf

13. Aug. 2023
11.00 Uhr Knesebeck / Strandbad

34 Jahre Wolfsburg

Johannes Thormeier begann 1989 als sogenannter Hilfspfarrer beim damaligen Superintendenten Hinrich Buß und in der Kirchengemeinde Fallersleben. Es folgten fünf Jahre in den Nordstadt-Gemeinden St. Marien und St. Thomas. Von 1995 bis 2001 war Johannes Thormeier Pastor der damaligen Martin-Luther-Gemeinde, wie auch in der Christuskirchengemeinde und der Heilig-Geist-Gemeinde tätig. Seit September 2001 versah der Theologe die Pfarrstelle I der Kreuzkirchengemeinde, die mit der Heilig-Geist- und der Paulusgemeinde 2015 zur Lukaskirchengemeinde fusionierte.

Pastor Johannes Thormeier