Traditionsreich: Partnerschaft mit der russischen Stadt Togliatti
Rund 300.000 Menschen hatten sich am 10. Oktober 1981 im Bonner Hofgarten versammelt. „Friedlich ist die größte Kundgebung in der Geschichte der Bundesrepublik in Bonn zu Ende gegangen“, lässt Tagesschausprecher Werner Veigel am Abend die Republik wissen. Diese Menschen demonstrierten für Frieden und Abrüstung. „Sie folgten einem Aufruf der Aktion Sühnezeichen und der Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden, der von über 1000 politischen und kirchlichen Organisationen unterstützt wurde.“ Erhard Eppler und Heinrich Böll gehörten zu den Redner:innen, die sich gegen die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in Westeuropa und gegen den Bau der Neutronenwaffe wehren. Die Bewahrung des Friedens dürfe man nicht allein den Politikern überlassen, so der Tenor 1981. Die Bundesregierung um Kanzler Helmut Schmidt war nicht erfreut über dieses Engagement.
"Geht doch nach drüben!"
Unter den Demonstrant:innen sind 1981 der Wolfsburger Pastor Horst-Ulrich Braun und seine Frau Elke. Die drei kleinen Kinder, zwei davon an Windpocken erkrankt, wurden bei Freunden im nahe gelegenen Köln untergebracht. Mit 40 Sonderzügen und rund dreitausend Bussen kamen die Menschen damals nach Bonn. Friedlich ist es zugegangen, auch die Polizei hielt sich zurück. 1981 – wie in einem anderen Zeitalter. „Ich habe mich in diesen Kreisen sehr wohl gefühlt, diese Themen auch in meinen Unterricht als Berufsschulpastor eingebracht“, erzählt Horst-Ulrich Braun. Widerstände und Unverständnis begegnen ihm. „Geht doch nach drüben, rief man uns auf der Straße zu.“ Vierzig Jahre ist das her, der Pastor im Ruhestand ist heute 80 und engagiert sich noch immer für Frieden.
‚Frieden schaffen ohne Waffen‘ war die Idee, sie wurde von vielen in der evangelischen Kirche Wolfsburgs mit großem Engagement gelebt. „Es gab Friedensschweigen an der Porschestraße, eine Gruppe von Engagierten hat dort jeden Freitagabend zusammengestanden. Manchmal zehn, manchmal aber auch 50 Leute.“ Was aber tun für den Frieden ohne Waffen? Eines der Ziele war, eine Partnerschaft mit einer russischen Stadt einzugehen. Über Kontakte zur IG Metall kam Togliatti ins Gespräch, eine junge Autostadt in Russland. Auch in anderer Hinsicht scheint die Stadt, in der der Lada gebaut wurde, ein Zwilling von Wolfsburg zu sein, der Stadt, die – von den Nationalsozialisten geplant – von einem großen Autowerk lebte und lebt. Togliatti entstand in den 1960er Jahren nach dem Bau eines Stausees an der Wolga und der Umsiedlung und Umbenennung der Stadt Stawropol, 750.000 Menschen leben heute dort.
1988: Erster Besuch in der Stadt am Wolga-Stausee
Mit der Idee einer Partnerschaft in Russland wollte man mehr als Wiedergutmachung erreichen. „Es ging uns um Zukunftsgestaltung, weg vom ständigen Feindbild Russland. Das Wort Feindbild spielte für uns eine große Rolle.“ 1988 fuhr die erste Gruppe aus Wolfsburg nach Togliatti, oder besser gesagt: nach Uljanowsk, der Geburtsstadt von Lenin. „Wir betrachteten uns als Delegation, bekamen aber keine Erlaubnis, in Togliatti zu übernachten, trotz Perestroika.“ 150 Kilometer und suboptimale Straßenverhältnisse müssen von Gewerkschaftsvertreter:innen, Lehrer:innen, VW-Beschäftigten und Pastor Braun überwunden werden. Vier Stunden Busfahrt bis nach Togliatti, dort Kontakte knüpfen, Gespräche führen und vier Stunden zurückfahren. „Zweimal wurde uns solch ein Tagesausflug gewährt.“ Anknüpfungspunkte suchte man zunächst auf Ebene der Schulen und der Gewerkschaften. „Ich als Pastor habe mich um den Kontakt zur Kirche bemüht und mit russisch-orthodoxen Geistlichen gesprochen.“ Horst-Ulrich Braun ist der einzige Pastor der 21-köpfigen Reisegruppe, die im Jahr vor dem Berliner Mauerfall zehn Tage in die Sowjetunion reist.
Der damalige Wolfsburger Oberbürgermeister Rolf Nolting hatte Bedenken gegen die Partnerschaft mit einer russischen Stadt, da Russland West-Berlin nicht als Teil der Bundesrepublik anerkannte. Als Oberbürgermeister Werner Schlimme sein Amt antritt, wendet sich das Blatt. Schlimme war selbst in russischer Kriegsgefangenschaft gewesen, hatte aber in dieser schweren Zeit auch gute Erfahrungen mit russischen Menschen gemacht. „Er hat sehr schnell die Kontakte aufgenommen, die auch von russischer Seite gesucht wurden.“ 1991 kam es zur offiziellen kommunalen Partnerschaft zwischen den Städten Wolfsburg und Togliatti. Schulen, Chöre, Tanzgruppen besuchten sich vortan gegenseitig, auch in der Wolfsburger Arche waren Besuchsgruppen zu Gast.
Kniefall vor dem Superintendenten macht Partnerschaft möglich
Aber die Kirche an sich war noch nicht involviert. Und dann kam Lore Engelkes, damals Diakonin in Wolfsburg, auf Horst-Ulrich Braun zu: Der Stuttgarter Stadtkirchenverband habe bereits eine Partnergemeinde in Samara, etwa 70 km entfernt von Togliatti an der Wolga gelegen. Württembergische Pastoren arbeiteten damals in Samara und litten unter den Fahrtwegen nach Togliatti. „Die betreuten die dort ansässigen, versprengten evangelisch-lutherischen Russlanddeutschen. Lore Engelkes hat dann den damaligen Wolfsburger Superintendenten Herbert Koch bekniet, eine Gemeindebildung in Togliatti zu fördern.“ Der unterstützt die Idee und schickt Pastor Friedhelm Brockmann nach Togliatti, um die Situation vor Ort zu erkunden und Gemeindeglieder zu sammeln. Auch Lore Engelkes fährt in die Wolfsburger Partnerstadt, erlebt kalte Winter und meterhohen Schnee in der Stadt am Wolga-Stausee. Beider Votum lautete: Eine Gemeindebildung in Togliatti ist umsetzbar und auch politisch möglich dank Perestroika.
Bis zum Jahr 2003 dauerte es dann doch noch, bis die Gemeinde von den Behörden anerkannt und die gerade ordinierte Pastorin Tatjana Zhivoderova eingesetzt werden kann. „Der Start war nicht einfach, es konnten nur schwer geeignete Gemeinderäumlichkeiten angemietet werden.“ Mittlerweile hat die Gemeinde ein kleines Haus erworben und eigenhändig saniert, etwa 50 Mitglieder gehören ihr an, überwiegend Nachfahren von Wolgadeutschen.
Deutschlandbesuche hinterlassen Zukunftsspuren
Tatjana Zhivoderova hat in Togliatti eine besondere diakonische Arbeit initiiert. „Dazu halfen ihr Erfahrungen, die sie bei ihren Besuchen hier bei uns gemacht hat.“ Insbesondere zu den Deutschen Evangelischen Kirchentagen kamen Gruppen aus Togliatti. Auch Besuche in Wolfsburg haben Spuren bei Pastorin Zhivoderova hinterlassen, unter anderem bei der Lebenshilfe und in den Kästorfer Einrichtungen. „Sie hat sich sehr für die Förderung behinderter Kinder interessiert, weil die in Russland zur damaligen Zeit fast gar nicht existierte.“ Lediglich eine kleine Rente wurde den betroffenen Familien zur Verfügung gestellt, denn Menschen mit Einschränkungen galten auch in Russland lange als nicht berufstauglich. Tatjana Zhivoderova startet in den Gemeinde-Räumlichkeiten die regelmäßige Betreuung behinderter Kinder und gründet einen Verein, um diese Arbeit möglich zu machen.
„Die Finanzierung dieses besonderen diakonischen Engagements aber auch die der Arbeit mit den Senioren in der Diasporagemeinde ist immer wieder ein Kummerpunkt“, sagt Horst-Ulrich Braun. Die Partnergemeinde möge sich doch auf eigene Beine stellen, auch wirtschaftlich – dieser Wunsch wurde und wird immer wieder geäußert. Die Gemeinde hat selbst aber kaum Einnahmen, über viele Jahre hat sich der Kirchenkreis am Pastorinnen-Gehalt beteiligt. Und tut es immer noch. Mit Summen, die für uns nach Portokasse klingen, vor Ort aber sehr viel möglich machen. Spendenaktionen zugunsten der Gemeinde in Togliatti wurden initiiert, auch die Wolfsburger Margarete-Schnellecke-Stiftung hat sich engagiert. „Das Problem der Gemeinde in Togliatti ist ihr geringes Alter. Sie hat keinen Besitz, aus dem sie Einnahmen generieren könnte. In Samara ist das anders, die Gemeinde wurde im 19. Jahrhundert gegründet und besitzt seitdem einige Immobilien.“
Menschen begeistern und ihnen Mut machen
Gegenseitige Besuche gehören zum Alltag auch der kirchlichen Partnerschaftsarbeit: Im Jahr 2018 wurde in Togliatti das 15-jährige Bestehen der Gemeinde mit Besuch aus Wolfsburg gefeiert. In diesem und im vergangenen Jahr war coronabedingt nichts möglich. Tatjana Zhivoderova war selbst länger an Corona erkrankt, die Angebote gerade für jüngere Kinder mit Einschränkungen mussten stark reduziert werden. Horst-Ulrich Braun wünscht sich, das diese diakonische, mittlerweile auch in Russland sehr anerkannte Arbeit Anziehungspunkt für gemeindeferne Menschen wird: „Ich erhoffe mir, dass der christliche Geist, der sich mit dem Tun verbindet, verstanden wird. Dass er Menschen begeistert und ihnen Mut macht, sich dort zu engagieren.“
Im kommenden Jahr soll der Evangelische Kirchentag in Nürnberg stattfinden, es ist das Jahr, in dem die Partnergemeinde 20 Jahre bestehen wird. Das wäre ein guter Anlass, die Partnerschaft unseres Kirchenkreises zur Gemeinde in Togliatti weiter zu vertiefen, mit einem offenen Herz im Sinne des Friedensgedankens – so stellt es sich Pastor Braun vor. Gerade in Zeiten, in denen die Spannungen mit Russland tagtäglich medial präsentiert würden, sei das dringend nötig. „Zu wissen, es gibt dort Menschen, denen unsere Freundschaft viel bedeutet, ist mir sehr wichtig. Ich möchte diese kleine Friedensbrücke, die wir aufgebaut haben, sehr gerne bewahren und weiter festigen.“
Öffentlichkeitsarbeit im Kirchenkreis / Frauke Josuweit