Paolo Brullo erhält das silberne Facettenkreuz der Landeskirche
Aus Wolfsburg ist Paolo Brullo nicht wegzudenken. Seit einem halben Jahrhundert arbeitet er ehrenamtlich für die evangelische Kirche. Als Sozialarbeiter für Menschen mit italienischen Wurzeln. Paolo Brullo sagt von sich: „Ich habe viele Geschichten.“ Oder auch: „Das ist eins der vielen Dinge, die man so macht.“ Warum er diese vielen Dinge macht, ist auch eine Geschichte – eine, über die wir mit ihm gesprochen haben.
Italiener und Italienerinnen haben Wolfsburg geprägt. Und das lange bevor 1962 die ersten sogenannten Gastarbeiter kamen, denn bereits 1938 schickte Mussolini 2.500 im faschistischen Italien dienstverpflichte Arbeiter zum Aufbau des Werkes für den damaligen KdF-Wagen. „Ohne die Italiener wäre das Volkswagen-Werk ein Rohbau und Wolfsburg gäbe es nur dem Reißbrett“, zitiert Paolo Brullo den Historiker Hans Mommsen. 1965 ist der Sohn eines evangelischen Pastors 14 Jahre alt, der Vater holt die Familie zu sich nach Wolfsburg. „Ich war kein typisches Immigratenkind. Viel lieber wäre ich in Italien geblieben, ich wollte unbedingt Profifußballer werden.“ Brullo lebte in der Nähe von Mailand, war Juventus Turin-Anhänger. „Schule war für mich nicht wichtig.“
Die Auswanderung aus Italien begleitet das Land seit der Gründung des italienischen Staates im Jahr 1861. Armut und mangelnde Perspektiven sind der Hauptgrund. „Nach dem ersten Weltkrieg sind viele von uns nach Süd- und auch nach Nordamerika gegangen, um Arbeit zu finden“, erzählt Paolo Brullo. Sechs Millionen Menschen mit italienischem Pass gäbe es zurzeit, die nicht in Italien leben. „Es gibt Italien ein Melderegister für die Italiener, die im Ausland leben, für die Bewohner in der Welt. Deswegen wissen wir ganz genau, wie viele von uns es sind.“ Wird im Parlament ein Gesetz diskutiert, müsse man sie fragen. „Wir haben keine Entscheidungsmöglichkeit, aber wir können sagen, das passt uns nicht. Sie müssen unsere Meinung einholen.“ 45 Italierinnen und Italiener weltweit machen das stellvertretend für die sechs Millionen, acht allein aus Deutschland. „Das ist ein Ausschuss unseres Außenministeriums, ich vertrete hier die 800.000 Italiener, die aktuell in Deutschland leben“, erzählt Paolo Brullo. Spricht er seinen Vornamen aus, hört es sich so an, als sage er Paul.
Spaghettifresser und Kartoffelfresser
„Das ist eine der vielen Dinge, die man so macht“, sagt er immer wieder im Laufe unseres Gespräches. Oder auch: „Wenn einer fragt, wo ist meine Heimat, antworte ich: Ich habe viele Geschichten.“ Anfangs kamen nur die Männer nach Deutschland. Nach Wolfsburg zu Volkswagen, oder nach Gelsenkirchen, wo die Minen waren. Zu Ford, nach Köln, nach Stuttgart zu Mercedes. „Am Monatsende hast Du sie gesehen: Lange Schlangen italienischer Männer, die ihren Lohn nach Italien überwiesen haben.“ Die Familien kamen Anfang der 1970er Jahre. Die Kinder sollen schnell Deutsch lernen, in Integrationsklassen, um bald die Regelschulen besuchen zu können. Paolo Brullo ist mit 45 Kindern in einer Klasse. Deutsche und italienische Kinder. „Du kleiner Itaker, was machst Du hier, haben sie mich gefragt? Es war der Fußball, der mir geholfen hat, mich zu integrieren.“ Du kleiner Italiener, was willst Du? Das kannst Du doch nicht! Denen hat es Brullo gezeigt. Beim Fußballspielen. Musste sich Spaghettifresser nennen lassen. „Ich habe sie Kartoffelfresser genannt. Das war eine Normalität damals. Ich musste mich immer rechtfertigen.“
Die Männer aus Italien, die ab 1962 nach Wolfsburg kamen, kamen zunächst für drei Monate, dann für drei Jahre. Sie bekamen Garantie für Wohnung und Lohn. „Die Wohnungen waren möbliert, bis hin zu den Bettbezügen. Tassen. Becher. Teller. Aber es waren Barackenlager.“ Das italienische Dorf war an der Berliner Brücke, dort, wo jetzt die VW-Arena steht. Bis zu 11.000 Menschen lebten dort, die größte italienische Ansiedlung nördlich der Alpen. Am Wochenende gehen die Italiener wie die Ameisen von der Berliner Brücke in die Stadt zum Einkaufen, zitiert Paolo Brullo aus einer Wolfsburger Zeitung aus den 1960er Jahren. „Wenn Feiertag ist, geht ein Süditaliener mit Krawatte und Hemd. Das Wort Ameise hat uns geschmerzt.“ Wut klingt neben dem Schmerz auch heute noch durch Brullos oft leise und sanfte Stimme. Nur manchmal ahnt man das Temperament des Sizilianers. „Ameisen sind fleißige Tiere.“ Tausende von Italienern in einem Barackendorf. Umzäunt von Stacheldraht. Mit Schranke. Ohne irgendein Geschäft, nicht mal für den alltäglichen Bedarf. Man musste sich als Besucher anmelden und bis abends um 10 Uhr wieder draußen sein.
Anfang der 1970er Jahre, als ihre Familien ankamen, zogen die italienischen Arbeiter in Höchhäuser nach Kästorf. Dort gab es keinen Zaun, ein Ghetto war es trotzdem. Wie sollten da die Kinder die deutsche Sprache lernen? „Um Deutsch zu lernen, musst Du Deutsch sprechen.“ Betriebsrat, Vertrauensleute, Personalbüro – Italiener arbeiteten bei Volkswagen für Italiener. Taxifahrer. Hausmeister. Alles Italiener. Auch bei den Banken in Wolfsburg oder später in den Reisebüros: Überall italienische Mitarbeitende. Keiner musste, keiner konnte Deutsch lernen. „Und dann sagt man uns: Hey, wenn Du in Deutschland lebst, musst Du Deutsch lernen!“
"Das Gefühl, Gastarbeiterkind zu sein, bleibt"
56 Jahre lebt Paolo Brullo in Wolfsburg. „Heute noch frage ich mich: Warum bin ich hier? Ich mache viele Ämter, ich mache Sozialarbeit.“ Sein Versuch, seine Frage auch gleich selbst zu beantworten, überzeugt nicht. Seit 1998 könnte er mit doppelter Staatsbürgerschaft in Deutschland leben. Er hat die deutsche Staatsbürgerschaft nicht beantragt. „Warum bist Du hier? Immer wieder muss ich es vor mir selbst rechtfertigen. Was bleibt, ist das Gefühl, ein Gastarbeiterkind zu sein.“
Brullo hat sich in Wolfsburg verwurzelt, ein Haus gebaut, Kinder großgezogen. Inzwischen ist er Großvater. „Das ist anders als mit den eigenen Kindern, wenn Du voll in der Arbeitswelt drin bist und gerade einen großen Kredit für ein Haus aufgenommen hast. Da bist Du mit Dir selbst beschäftigt.“ Brullo ist in Sizilien geboren, das ist sein Ursprung. Der Vater zog mit der Familie nach Norditalien der Arbeit wegen. Ein Lehrer – „Schule war nicht wichtig für mich, ich wollte ja Profifußballer werden.“ – prägt den Grundschüler: ‚Paolo, Du musst Dich bemühen, besser zu werden. ‘ Jedes Jahr im Urlaub besucht Brullo seinen Lehrer. ‚Paolo, wann kommst Du wieder?‘ Jedes Jahr im Urlaub kommt diese Frage. „Ich weiß nicht, wann ich zurückkomme.“ Auch hier: Brullo muss sich rechtfertigen. „Ich kenne Paolo seit langem. Ich glaube, der wird nicht wiederkommen“, sagt schließlich der Lehrer Anfang der 1990er Jahre anlässlich einer Feier in Wolfsburg zum italienischen Nationalfeiertag. „Er wird nicht zurückkommen, weil seine Liebe zu euch, zu euch Italienern in Deutschland ihn hier hält.“
"Herz ist gut, aber am meisten brauchst Du Verstand"
Paolo Brullo lernt Kfz-Mechaniker im Autohaus Wolfsburg und arbeitet dort für ein Jahr. „Ich war schwach. In der Schule und in der Ausbildung. Aber: Ich habe niemandem Geld geklaut.“ Im Sommer 1971 stirbt plötzlich der Vater, erst 48-jährig. Seminare für Italiener, die bis dahin sein Vater, der evangelische Pastor, gab, übernimmt Sohn Paolo. Er lebt bei seiner Mutter, deren Rente nach Beitragsjahren des jung verstorbenen Vaters bemessen wird. Das Geld reicht nicht zum Leben. Brullo wird Sozialarbeiter – in der Wolfsburger Arche, für eine italienische Organisation. Das macht er fast fünf Jahre, bei unregelmäßigen und nicht verlässlichen Gehaltszahlungen. „Im Januar habe ich dort angefangen, im Mai kam der erste Lohn.“ Für einen, der Familie und auch die eigene Mutter zu versorgen hat, ist das kein haltbarer Zustand. Brullo wechselt zu VW, zunächst in die Produktion, später arbeitet er als Mechaniker in Forschung und Entwicklung.
33 Jahre lang ist er im Werk - „Was ich bei VW an Konflikten bereinigt habe!“ –, bis er in den Vorruhestand geht. Und sich seinen Ehrenämtern widmet. Als Vorsitzender des Ausschusses des italienischen Konsulates in Wolfsburg beispielsweise. Oder als Mitglied des Ausschusses des italienischen Außenministeriums, das sich für die weltweit verstreut lebenden Italiener:innen engagiert. Als Dozent an der Volkshochschule, wo er seit über vier Jahrzehnten unterrichtet. Eine der vielen Dinge, die man so macht. Vor allem aber – „Das ist eine der vielen Dinge, die man so macht.“ – bleibt Brullo Sozialarbeiter. 50 Jahre lang. Bis heute. Morgens vor der Frühschicht, abends nach der Arbeit, am Wochenende – Brullo ist immer in der Arche, später im Haus der Kirche anzutreffen. „Man wächst mit der Arbeit. Wenn man mit Menschen zu tun hat, geht es um Schicksale. Keiner kann Dir so viel beibringen wie Menschen, keine Uni kann das.“ Brullo versteht sich als Anwalt seiner Landsleute. „Herz ist gut, aber am meisten brauchst Du den Verstand. Denn wenn Du als Sozialarbeiter die Gesetze nicht kennst, kannst Du nicht helfen.“ Er geht mit zum Sozialamt, zum Arzt, schreibt Anträge für Rente, Kranken- oder Kindergeld, für die Arbeitslosenunterstützung. Fährt Kinder mit dem Bus zur Schule. „Ich begleite Sie bis zum Tod“, sagt er. Das ist für ihn als Sohn eines Pastors seine Lesart vom Auftrag Gottes, den Menschen zu helfen. Wieder so eine Geschichte. Die der Liebe zu den Menschen, besonders zu den Italienern in Deutschland. Vielleicht ist das seine eigentliche Heimat?
Öffentlichkeitsarbeit im Kirchenkreis / Frauke Josuweit